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Alter, Selbstwirksamkeit und die Kultur der kleinen Gesten

Sean Michaels

14. Jan. 2022

Zehn Thesen von Dr. Norbert Spangenberg

Die Interviewstudie und ihre Kommentierung durch Dr. Norbert Spangenberg haben im Projekt OSD PLUS eine Fülle von Einsichten und Anregungen vermittelt, die in zukünftigen Diskussionen zum Thema Älterwerden eine Rolle spielen werden. In den nachstehenden Thesen bezieht sich der Autor auf seinen umfassenden Arbeitskommentar der Interviewstudie. Er plant, diesen Kommentar zu einem späteren Zeitpunkt als Essay auszuarbeiten.

These 1
Das Gallus ist aufgrund seiner Vorgeschichte als Industriestandort vor den Toren Frankfurts von der „Urbevölkerung“ her ein Arbeiterviertel. Viele Menschen sind hier groß geworden, deren Kinder und Enkel ebenfalls zum Teil hiergeblieben sind. Der Stadtteil weist also ein hohes Ausmaß an Sozialbindung auf, die sowohl horizontal über die den relativ konstanten Bestand einer sozial homogen wirkenden „Kernbewohnerschaft“ sowie vertikal über transgenerationale Familienbindungen entstanden sind. Dies trifft zum Teil auch für Migranten zu, wobei das Gallus durch die unterschiedlichen Flüchtlingswellen aufgrund des relativ billigen Mietspiegels auch Auffangbecken für kurzfristige Unterbringungen ist. Es ist ein lebendiges Viertel mit angepasster Infrastruktur, kleinen Geschäften, Bistros, wenn man mal von der Hauptrennachse des Viertels, der Mainzer Landstraße, absieht, deren einschüchternde große Gebäude und Unternehmen nicht auf den Bedarf der Gallusbewohner ausgerichtet ist, sondern auf autofahrende Kunden aus ganz Frankfurt. Architektonisch ist das Gallus ein gewachsenes Quartier, das durch Verschönerung im Rahmen der sozialen Stadt aufgewertet wurde, allerdings auch durch die Nähe des hochpreisigen Europaviertels einem Gentrifizierungsprozess unterworfen ist.

These 2
Die Befürchtung, dass auch hier bei älteren Bewohnern Ausgrenzungs und Vereinsamungsprozesse viel zu früh einsetzen und zu typischen Erkrankungen der Vereinsamung sowie zu verfrühter Pflegebedürftigkeit führt, hat sich voll bestätigt. Trotz aller reichhaltigen Angebote der verschiedensten Organisationen, älteren und häufig ängstlichen Menschen Formen der Geselligkeit schmackhaft zu machen, verfehlen diese oft ihren Adressaten.
Im Laufe des schleichend sich vollziehenden Ausgrenzungsprozesse werden mehrere unsichtbare Kontaktbarrieren errichtet, die die Gruppe der vereinsamten älteren Menschen wie in einer Art Angstgeflecht gefangen halten und damit zu einem Leben des Rückzugs und des passiven Konsumismus verurteilt, das von außen schwer aufzubrechen ist.

These 3
In den Interviews tauchte die Idee auf, dass es eine Art Lotsen geben müsse, die die Verbindung herstellen zwischen dem „geselligen Gallus“ und den vereinsamten zurückgezogenen Menschen. Aber wer könnten diese Lotsen sein? Eine andere Metapher, die hochbedeutsam ist, um die unsichtbaren Kontaktschranken zu überwinden, ist das Bild der Antenne. Damit sind Menschen gemeint, die mit solchen auf dem Rückzug sich befinden älteren Einwohnern noch in Kontakt stehen und Alarm schlagen könnten, um andere geeignete Hilfskräfte oder Hilfsmaßnahmen zu mobilisieren, die dadurch vermeiden können, dass der Prozess der Vereinsamung irreversibel werden könnte.
In diesem Zusammenhang haben Ärzte und auch Pflegekräfte, eventuell auch Geistliche, meist aber Ärzte eine Schlüsselfunktion, die als letzte aufgrund der Gesundheitsprobleme dieser älteren Menschen noch in Kontakt treten können. Das Gemeinsame dieser Berufsgruppen rings um die Behandlung von Krankheiten oder Behinderungen besteht darin, dass sie sich rein auf das Körperliche beschränken, während das Problem der Vereinsamung und des seelischen Rückzuges aus Zeitgründen zwangsläufig ausgeklammert werden muss

These 4
Es gibt starke Hinweise dafür, dass gerade die Einrichtungen im Gallus eine ungeheure Beliebtheit und Anerkennung erfahren, die Klienten nicht in eine rein konsumistische Position hineindrängen gemäß der Wohlfahrtsnorm. Es sind dies die Einrichtungen des Alltags, die in einer Weise Kontakt schaffen, wie dies Wohlfahrtseinrichtungen kaum leisten können. Hierzu zähle ich Nachbarschaftskontakte, die zum Teil Selbsthilfeniveau haben, Geschäfte mit Dienstleistungscharakter wie Fußpfleger, Friseur, Metzger, Lebensmittelgeschäft, Bistros, Kaffee, Kneipen, der Wochenmarkt. Hier entstehen zwanglos, nicht reglementierte Kontakte, die von den Betroffenen autonom hergestellt und auch wieder gekündigt werden können. Am Ende des Kontaktes, beispielsweise auf dem Wochenmarkt oder in einem Bistro, ist man quitt: man verabschiedet sich oder bezahlt, und jeder der Beteiligten hat es in der Hand, inwieweit er/sie bereit ist, den Kontakt fortzusetzen oder zu beenden. Gerade diese ungestörte Form der Vernetzung stellt ein ungeheures Potenzial der Sozialbindung von Bewohnern dar, die heterogenen Milieus angehören und nicht von der „Urbevölkerung“ des Gallus abstammen.

These 5
Die geschilderten Thesen haben natürlich auch städtebaulich architektonische Konsequenzen. Inzwischen gibt es ziemlich genaue Vorstellungen darüber, wie eine städtebauliche Architektur beschaffen sein muss, damit sich die Bewohner und speziell solche, die sich auf Grand ihres Alters bedürftig und abhängig fühlen, besonders wohl fühlen können. Hier konnte plausibel nachgewiesen werden, dass dies nicht eine Frage des Geldes ist, da die mit den Bewohnern abgestimmte Art der Bebauung nicht teurer war, als die konventionelle Architektur im übrigen Arbeiterviertel. Ältere Menschen brauchen sowohl Kontakt als auch Rückzug sowie auch eine gewisse Nähe zur Natur. Jeder weiß das, aber dennoch wird systematisch dagegen verstoßen. Eine extrem reiche Gesellschaft muss sich befragen lassen, warum sie ein „altenwürdiges Wohnen“ angeblich nicht finanzieren kann. Erschreckende Beispiele neueren Datums i Frankfurt sind das Europaviertel und der Riedberg. Als aktuelles Beispiel sei die Zerstörung der Apfelweinkneipe Drosselbart mit einem Freilichtgarten unter alten Bäumen im Stadtteil Eschersheim genannt, um die eine Bürgerinitiative vergeblich kämpfte. Der neue Betreiber versprach aber, das alte Schild aufzubewahren. Dies sei doch nur eine Art Grabstein, so die Bürgerinitiative.

These 6
Wenn man von einer Art Parallelgesellschaft ausgeht jenseits des lebendigen Gallus, stellt sich die Frage, welche Mechanismen der Integration gefördert werden müssen, damit die älteren von Vereinsamung bedrohten Bewohner des Gallus nicht in diese Parallelwelt der Vereinsamung und der Virtualität abdriften. Im Grunde spiegelt sich hier auch ein Phänomen der Moderne wider, das hier nur exemplarisch am Beispiel der Alten abgehandelt wurde. Um hier Abhilfe zu schaffen bedarf es eines grundsätzlichen Umdenkens. Es ist nicht die Frage, ob man neue Psycho oder Sozialexperten installieren kann, die dann mit einer Lotsenfunktion betraut werden. Vielmehr geht es um ein neues Leitbild der Compassionate City, in der der Alltag im Stadtviertel genug Anlässe und Gelegenheiten bietet, in ein Netzwerk von Kontakten und bürgerlichem Engagement eingebunden zu werden. Hier spreche ich auch von einer alternativen Gabenökonomie, die Bindung und Vernetzung herstellt. Dass auch diese kein Allheilmittel ist und auch neue Arten von Konflikten mit sich bringt, wird abgehandelt.

These 7
Der am meisten valide Befund, der das Abdriften der alten Menschen in die Einsamkeit verhindert, ist die Tatsache der Selbstwirksamkeit. Die verschiedenen Zirkel zwischen Selbstunwirksamkeit, Depression, Angst und Vereinsamung werden umfangreich dargestellt. Hier haben Cafés, Kneipen, Kioske, die Flanierzeile der Frankenallee, der Wochenmarkt hohe Anziehungskraft und Bindewirkung, weil hier die Bewohner eine Art soziale Bühne vorfinden, über deren Betreten sie selbstbestimmt entscheiden können. Im Kontrast hierzu sind Veranstaltung der Wohlfahrtsverbände weniger wirksam, da sie der Wohlfahrtsnorm gehorchen, ein asymmetrisches Beziehungsgefälle zu den Klienten herstellen, die in solchen Settings passive, zum bloßen Konsumismus verurteilte Gabenempfänger sind. Das Moment der Bindung, der wechselseitigen Anerkennung, des eventuell gemeinsamen Engagements wird durch solche Angebote eher geschwächt. Untermauert wird die These durch die Schilderung der Lebensform von über 100jährigen in den sogenannten Blue Zones. Hier fällt nicht nur der hohe Gemeinsinn auf, sondern interessanterweise auch das Fehlen der typischen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Herzinfarkt, Demenz, Bluthochdruck, Krebs.

These 8
Die Umsetzung der hier geschilderten Programmatik erfordert einen langen Atem. Hier droht die Gefahr, dass aufgrund des faktischen Problemdruckes die Betreuung der alten oder ganz allgemein die Unterstützung von Außenseitergruppen mithilfe der Computertechnik oder mit Robotern gelöst wird. Dies wäre ein weiteres Fortschreiten der Virtualität im Erleben der Älteren, die damit nur weiter in ein virtuelles Getto abgedrängt werden. Es bedarf einer langfristigen Caring Revolution.

These 9
Speziell in der konkreten Stadtteilarbeit im Gallus könnten die Form wechselseitiger Anerkennung, sozialer Bindung und Fürsorge füreinander durch eine Kultur der kleinen Gesten vorangetrieben werden. Für ältere Menschen bedeutet dies vor allem eine entsprechende Kultur im Nahbereich, da bei zunehmender Gebrechlichkeit speziell der Nahbereich genauso hoch besetzt ist wie für andere Menschen in den besten Jahren die jährliche Fernreise nach Asien. Dazu gehören zum Beispiel Grußkontakte, Blumen im Treppenhaus, Patenschaften für Haustiere, Bänke, aber auch Formen der Reinlichkeit und des Gepflegtseins im Treppenhaus rings ums Haus, in den Parkanlagen usw.

These 10
Was die Kultur der kleinen Gesten angeht, so wäre es wichtig, in einer Folgestudie ganz konkret vor Ort zu eruieren, in welcher Weise die oben beschriebene Kultur der kleinen Gesten umgesetzt oder auch von Widrigkeiten blockiert wird. Gibt es zum Beispiel Konflikte in der Hausgemeinschaft, die zu gegenseitiger Destruktivität und zur Vernachlässigung des Gemeinsinns führen? Gibt es zum Beispiel in den Parkanlagen tonangebend Gruppen, die die Reinlichkeit der Anlage missachten oder gar andere Mitbewohner in ihrem Bedürfnis nach Sicherheit, nach stiller Einkehr einzuschüchtern versuchen? Auch wäre interessant, konkret zu untersuchen, welche Solidarität und Bindewirkung kleinere Projekte der Selbstwirksamkeit speziell für ältere Menschen hervorrufen können. Dies könnte für die Gestaltung solcher Anlagen sowie für die Wartung durch Selbstinitiative der Bewohner als auch für die Belegungspolitik der Mietwohnungen von Bedeutung sein. Ist es vorteilhaft, eine gemischte Belegung vorzunehmen, um beispielsweise eine Begegnung zwischen den Generationen zu ermöglichen, oder bewährt sich eher das Konzept einer homogenen gemeinsam alternden Hausgemeinschaft?

Ein Hinweis zum Schluss: In dieser Untersuchung wurde der multikulturelle Aspekt dieses Stadtteiles, in dem es auch viele alternde muslimische Mitbürger gibt, leider vernachlässigt.

Quelle: Projektspiegel Nr. 1/21. 03.08.2021
OSD-PLUS. Ein Pojekt mit vielen Perspektiven
Hrsg: Jugend- und Sozialamt und Frankfurter Verband für Alten- und Behindertenhilfe e.V. im Rahmen des gemeinsamen Projektes OSD PLUS

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